Neue Literatur von Dominik Riedo – Lese-Hinweise
Vom regelmässigen «Zeitnah»-Essayisten Dominik Riedo liegen in diesem Bücherherbst gleich vier neue Bücher vor. Sie sind verschieden, kreisen aber auch um verwandte Dinge.

Die erste Seite aus Dominik Riedos Text «Uns trägt das Angesungene». Dass alle Änderungen nachvollzogen werden können, führt zu verunsichernden Fragen: Was ist ein Text? Wo beginnt er? Wo endet er? Aus wie vielen Schichten besteht er? Wer sind die für seine Konstituierung wesentlichen Protagonisten? Man beginnt automatisch, die über das Büchelchen verteilten verschiedenfarbigen Textblöcke zusammenzusuchen, ähnliche aufeinander hin zu denken, Gestrichenes in die Lektüre miteinzubeziehen. Am Ende vieler Fragen bleibt die ursprüngliche Frage: Was soll das? Ist das ([immer] noch/schon [wieder]) Prosa? Diese Frage lenkt von grundlegenderen Fragen ab, die aufgeworfen werden in dem Bändchen. Vom Humor sowieso. (zVg)
Leben und Werk in unsicherer Zeit
Im Opus magnum «Wolf von Niebelschütz: Leben und Werk. Eine Biographie», seiner 919-seitiger Dissertation, zeichnet Riedo eine Biografie eines umstrittenen deutschen Dichters. Es wird ein Leben in den Wirren des deutschen 20. Jahrhunderts gezeichnet, von der untergehenden Weimarer Republik, zur Anpassung an das NS-Regime und Auflehnung dagegen, zur Wehrmacht und in die Nachkriegszeit. Sie erst sollte seinen Ruhm als Schriftsteller begründen mit den Hauptwerken «Der blaue Kammerherr» und «Die Kinder der Finsternis». Niebelschütz war Journalist und Verfasser von Firmenporträts, Essayist, Propagandist und Wehrmachtssoldat, schrieb daneben hochkomplexe Romanprosa voll Musik, die es verdiente, von seinen Handlungen im Unrechtsregime getrennt betrachtet und gewürdigt zu werden. Es ist das Porträt eines literarischen Einzelgängers und Formkünstlers, der nicht nur mit der Gruppe 47 im Clinch lag. Zugleich ist es die erste grundlegende, gründliche Biografie dieses Schriftstellers, basierend auch auf zahlreichen von Riedo erstmals zugänglich gemachten Archivalien.
Im letzten Scheitern der Literatur
In seinem Roman «Die Schere im Kopf» geht es um das letzte Scheitern der Literatur, nämlich die, wenn schon nicht Beschreibung, so doch Greifbarmachung des eigenen Todes in Prosa. Ein Mann liegt im Spital, Aussichten auf weiteres Leben gleich null. Er hat nur noch fünf Tage und Nächte zu leben. Sein Leben geistert ihm durch den Kopf, Gedanken, Gefühle, immer wieder das paradoxe Getriebensein dessen, der stets etwas wollte und es doch nie tat. Oder nie richtig tat. Weil es andere schon vor ihm getan hatten. Seine Rechenschaft ist beklemmend gründlich, er schont nichts und niemanden, auch und gerade sich selbst nicht. Er verbeisst sich in seinem Leben, im Gewesenen, im Nichtgewesenen, im Erträumten und Befürchteten. Seine Rechenschaft kommt daher mit der Selbstfixierung der Sterbenden. Ein grosser Zauderer wird porträtiert, ein Zauderer, bis zuletzt. Es ist ein herausforderndes Buch, das nicht kalt lässt – wie auch in der «Zeitnah»-Rezension klar wird.
Den Widerstand der Welt entgegnen
Der dritte Streich Riedos ist die Essay-Sammlung «Mein Herz heisst ‚Dennoch‘: Literarische Porträts». Viele der versammelten Essays erschienen und erscheinen auch auf «Zeitnah». Hier dreht sich alles um Dichter und Denker und deren Andersartigkeit, verglichen mit der Gesellschaft, in der sie lebten und arbeiteten, wirkten oder verpufften. Hier finden sich ebenso lustvoll wie klug formulierte Texte über zwischen Werk, Welt, Leben Zerrissene, über Hadernde, Verzweifelnde, sprich: über Menschen aus Fleisch und Blut – ein Fakt, der bei der unbedachten Anhimmelung und Kanonisierung literarischer Grössen allzuoft hintan gerät. Riedos Texte «berichten von Schmerz, von letzten Jahren im Leben, von späten Werken, Endzeitwerken, Endzeitstimmungen oder metaphysischer Trauer». Sein Blick gilt dem Widerstand der Welt, den diese Denker erfuhren, aber auch dem Widerstand, den sie selbst der Welt entgegensetzten, dem unbeirrbaren Glauben der Porträtierten an das «Dennoch» – an die Keimzelle der unsterblichen Literatur.
Verdichtung und Auflösung
Das verstörendste von Riedos vier Werken ist das trügerisch schmale Bändchen «Uns trägt das Angesungene». Es kreist um Fragen wie, wann eine Skizze aufhört Skizze zu sein, wann sie Werk wird, welche Protagonisten und Akteure an dieser Wandlung beteiligt sind oder um die zeitlose Frage nach der Bedeutung von Autorschaft. Der Text kommt daher wie ein Wordfile, in dem sämtliche Änderungen nachvollzogen werden können – man kann darin also alle Streichungen, Ergänzungen und sogar die Kommentare eines Dritten, des Lektors, lesen. Das verwirrt ebenso, wie es dazu anregt, die Verwirrung zu lösen, Zusammenhänge, Anklänge zu finden. Auf kaum achtzig Seiten wagt Riedo mehr, als viele Hersteller marktgängigerer Prosa in ihren so streng auf Betulichkeit, schubladisierbare Empfindsamkeit und Debatten-Anschlussfähigkeit geeichten Textchen. Das geht nicht immer gut. Dazu stellt Riedo zu unangenehme Fragen. Man achte einmal darauf, wie viele der meist winzigen Skizzen enden mit, na was wohl – dem Tod. Das Ganze wird von einem immer wieder durchscheinenden Humor grundiert, der unter anderem in Seitenhieben auf Daniel Kehlmann gipfelt. Das Büchlein hat also schon auch seine ruhenden Pole, und es ist längst nicht so düster, wie es bei der ersten Lektüre erscheint. Das ist Literatur im Kleinen, im Diorama, in einer Form von Verdichtung bei gleichzeitiger Auflösung, die die so gern allenthalben beschwiegene Unabschliessbarkeit aller Literatur beinahe schmerzhaft deutlich macht.




