gesichtet #147: Gassen in ein Kleinhüningen von gestern
Von Michel Schultheiss
Das einstige Fischerdorf ist einfach anders. Das ist bereits dem Mundartdichter Theobald Baerwart aufgefallen. Er beschrieb die Eigentümlichkeiten Kleinbasels, die es so ganz vom grossen Stadtteil auf der anderen Rheinseite unterschieden. Das in seinen Jugendtagen noch nicht eingemeindete Kleinhüningen war aber selbst für ihn so etwas eine Terra incognita. Die Bewohner der Gegend hinter der Horburgstrasse, wo das «wildes Viertel» seiner Jugendtage aufhörte, waren sogar ihm suspekt: «[…] uff d Glaihyniger hän sogar mit ere souveräne Verachtig abegluegt», schrieb er in seinen Memoiren. Schliesslich war ihm auch dieser Kindervers bekannt: «Basel isch e scheeni Stadt, Glaihynige-n-isch e Bättelsagg».
Noch heute hat Kleinhüningen wie kaum ein anderer Stadtteil mit Imageproblemen zu kämpfen. Manchmal wird es noch viel uncharmanter als in jenem Verslein beschrieben. In einem letztjährigen Tagi-Artikel wurde es gar zum Abfallkübel Basels gemacht.
Gewiss gibt’s hier Seiten, die es wohl kaum in einen touristischen Hochglanzprospekt der Uhren- und Schmuckmesse schaffen. Man denke ans Ausschaffungsgefängnis Bässlergut beim Zoll Otterbach. Zum Stadtteil gehört auch die Kläranlage – bei Google als «Sehenswürdigkeit» und ohne Rezensionen angezeigt. Wer die erste Bewertung dieses Orts schreibt, kann sich rühmen. Kleinhünigen ist auch der Stadtteil des immer wieder belächelten Stücki-Centers, von toten DB-Eisenbahngleisen, die sich bis ins Hirzbrunnen ziehen. Und natürlich ist es vor allem der Stadtteil mit den mächtigen Anlagen des Rheinhafens.
Vielleicht ist aber das 1908 eingemeindete Fischerdorf das am meisten unterschätzte Quartier Basels. Es ist vor allem kontrastreich. Fischersiedlung, Industrialisierung, der Hafen als einschneidendes Moment und schliesslich die postindustrielle Phase: Alles hat hier seine Spuren hinterlassen. Archivfotos zeugen davon, wie ländlich es hier noch vor dem Bau des ersten Hafenbeckens zuging, bis die Pflanzplätze weichen mussten. Dagegen ging es im Dorfzentrum mit beliebten Fischlokalen gesellig zu und her. Man denke an das Restaurant Krone von Baschi Frey, das bei den Städtern ein beliebtes Ausflugsziel war. Bis 1923 befand sich dort noch die Endhaltestelle des Trams. Weitere mittlerweile verschwundene Lokale waren das «Turnerstübli» und «Gasthaus drei Könige», wo nach dem Hafenbau die Schifferleute einkehrten.
Die Industrie und Hafenbecken verschlangen das alte Dorf zusehends. Es kamen die Färberein, dazu im benachbarten Klybeck zahlreiche Arbeiterwohnungen. Mit dem Hafenbau wurde die Krautgasse aufgehoben, die Dreikönigsgasse blieb eine Planungsleiche. Andere Dorfverbindungen, die einst in Richtung Rhein führten, wurden zu Sackgassen zusammengestutzt. Eine Infotafel der Bürgerkorporation Kleinhüningen erinnert noch immer daran. So blieben noch die Reste der Friedhof-, Boner, Pfarr-, und Schulgasse erhalten. Dort finden sich auch noch die letzten alten Fischerhäusschen. Alle anderen vielen der Abrissbirne zum Opfer – mit einer Ausnahme: Das Fischerhaus Bürgin wurde verlegt. Es steht heute gleich beim Gut des Fabrikanten Clavel, wo übrigens kürzlich das Restaurant Schifferhaus den Betrieb einstellte.
Ein Hauch vom einstigen Dorf bietet sich auch an der Schulgasse oder gleich daneben an der Friefhofgasse: Wer hier einbiegt, taucht unerwartet in ein ganz anderes Kleinhüningen als das der Tanklager, Plattenbauten und Autobahnzubringer: Hinterhöfe und verwunschene Gärten kommen dort zum Vorschein. Bei der Hausnummer 10 steht auch eines der ältesten bestehenden Fischerhäuser aus dem 18. Jahrhundert. Das Weglein führt an der Dorfkirche und dem Schulspielplatz vorbei und endet jäh bei den mächtigen Gebäuden von «Rhenus Logistics».
Der Name sagt es bereits: Einst führte die Gasse zum längst aufgehobenen Gottesacker Kleinhüningen. Der Friedhof bei der Kirche wurde 1849 eröffnet. Der Volkskundler Paul Hugger vermutet jedoch, dass das Fischerdorf schon früher einen eigenen Gottesacker besass. Jedenfalls wurden die Bestattungen im kleinen Kirchhof im vorletzten Jahrhundert zu einem Problem: Wie aus den Gemeinderatsprotokollen hervorgeht, waren 1880 waren die Grabflächen proppenvoll, sodass der Leichengeruch unerträglich wurde. Daher wurde ein neues Grabfeld bei der Grenze beschlossen und zwei Jahre später eingeweiht. Dieses wurde dann bis zur Eröffnung des Friedhof Hörnli im Jahr 1932 genutzt wurde.
Die Friedhofgasse, der 1892 amtlich benannt wurde, erinnert noch heute an die einstigen Trauerzüge durch den Trampelpfad. Der enge Weg wäre übrigens in der Nachkriegszeit beinahe merklich verändert worden. Ein Anrainer wollte dort eine Garage bauen. Das stiess nicht gerade auf Begeisterung. In Strassenakten des Staatsarchivs ist eine Einsprache von 1952 zu finden. Der Kirchenvorstand fand es keine gute Idee, Autos durch die schmale Gasse zu zwängen. Er befürchtete, dass damit die Kirchgänger oder andere Passanten zu gefährdet werden könnten.
Nun bleiben die letzten kleinen Gassen Kleinhüningens bis heute vom Autoverkehr verschont – und relativieren noch heute Zuschreibungen wie «Bettelsack» oder «Abfallkübel». Das Quartier hat natürlich auch andere Seiten als idyllische Gässlein. Doch davon soll in einer späteren Ausgabe von «gesichtet» die Rede sein.
- Ein Wanderprediger wird revolutionär – Nate Parkers «The Birth of a Nation»
- Der Veganer in mir – Christophe Van Rompaeys «Vincent»