Michel Schultheiss‘ Kolumne «gesichtet» wird 100!

Michel Schultheiss’ «Zeitnah»-Kolumne «gesichtet» erscheint heute zum 100. Mal. Grund zum Feiern und für einen Jubeltext!

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Verweile doch, Augenblick, verweile! «gesichtet» ist nie «nur» Bild oder «nur» Text, sondern immer ein ineinandergreifendes, über sich selbst hinausgreifendes Ganzes. Mit edler Feder und mit dem Auge für Kleinigkeiten und Zusammenhänge entführt uns Michel Schultheiss jeden Freitag in seine Welt. (Foto: na wer wohl?).

von Gregor Szyndler

Seit dem 29. September 2012 gehört die Kolumne «gesichtet» untrennbar zu «Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012». Jeden Freitag verwöhnt Co-Chefredaktor Michel Schultheiss seine Leserschar mit fotografischen Essays und essayistischen Fotos. Wer Michel Schultheiss‘ Kolumne verstehen will, muss ins «gesichtet»-Archiv. Eine der ersten «gesichtet»-Kolumnen zeigte das Schaufenster eines Tatoo-Salons. So weit, so unspektakulär. Was «gesichtet» allerdings ausmacht, ist der Blick fürs Unscheinbare: fürs Zusammenspiel zwischen einem knutschenden Gerippe-Paar im Schaufenster, der Schaufensterwerbeschrift und der darin gespiegelten Strasse. So entsteht ein unvergessliches Bild, das einen lange begleiten wird, das grosse Kunst im Kleinen ist und längst gedruckt gehört (kleine Indiskretion: wir arbeiten dran!). An solchen Details und Zusammenhängen ist unser Alltag reich, wie man staunend sieht, wenn man sich durchs «gesichtet»-Archiv klickt. So lehrt uns «gesichtet» auch wieder die Künste des Schauens und Staunens, die heute so gern mit Displaystarren und Tunnelblick ersetzt werden.

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Was «gesichtet» ausmacht, ist der Blick fürs Unscheinbare: fürs Zusammenspiel zwischen einem knutschenden Gerippe-Paar im Schaufenster, der Schaufensterwerbeschrift und der darin gespiegelten Verkehrsleitungssignalisation.

Schaufenster haben es Michel Schultheiss angetan: ob nun Erinnerungen an längst vergilbte Software, irgendwie seelen-, ganz bestimmt aber armlose Schaufensterpuppen, besoffene Lesebrillen oder die kuriosen Auslagen auf Flohmärkten. Nichts entgeht dem Blick des Fotografen, nichts der Feder des Essayisten, der seine Beobachtungen profund und elegant verschriftlicht und mit Spitzen versieht.

«Vom [Floh-]Markt profitieren also irgendwie alle – selbst auf den Nebenschauplätzen: Ein älterer Mann packt auf der Müllhalde das Füllmaterial einer weggeworfenen Jacke ein während zwei Polizisten bei den falsch parkierten Fahrzeugen von ein paar Marktfahrern Busszettel verteilen.»

Ein wiederkehrendes Motiv seiner Kolumne ist Basel in allen denkbaren Facetten. Mit einem liebevollen Auge findet Michel Schultheiss, was wir schon gar nicht mehr wahrnehmen, da wir so sehr daran gewöhnt sind (oder weil wir solche Orte gekonnt durchrasen, zu schnell, um was davon wahrzunehmen). Mit der Ausdauer und Ortskenntnis eines Stadtwanderers stöbert Michel Schultheiss die skurrilen und vergessenen, die allzu-alltäglichen und die für unmöglich gehaltenen Ecken und Enden unserer Stadt auf. Seine vielbeachtete Kolumne sorgt verlässlich für traumhafte «Zeitnah»-Zugriffsraten, andere Medien greifen seine Themen und Bilder auf.

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Des Geranienkistchen-Krieges erster Teil, fotografiert und betextet von Michel Schultheiss in «gesichtet #33».

Ebenso wie den vergessenen Orten und Plätzen der Stadt gilt Michels Schultheiss‘ Interesse den schrulligen und liebenswerten Figuren, die zum Stadtbild in unseren Gassen und Strassen gehören – Geheimdienstler, engelhafte Lächlerinnen und Medizinmänner, sie alle werden von ihm verewigt und mit lesenswerten, klugen Texten bedacht.

Über die Jahre verzeichnete seine Kolumne so immer auch wieder den Wandel der Stadt, dem besetzte Häuser und fantasievolle Zwischennutzungen ebenso unterliegen wie das Rheinufer dem Wechsel der Jahreszeiten. Sein liebevoller, assoziationsreicher Blick gewinnt auch den tristeren Winkeln und Durchschlüpfen der Stadt etwas Schmunzelndes und Versöhnliches ab, und er schafft es, wohl auch durch seine feste Verankerung nicht nur in unserer, sondern ebenso in der mexikanischen Kultursphäre, urbane Protestformen vor einem weiteren Horizont zu begreifen, ohne in voraussehbare Argumentationen zu verfallen oder seine Leser mit Zeigefingerwedeleien zu langweilen.

Krähe und Skulptur am St. Johanns-Platz

Muss man erst einmal sehen: Alltagsszene vom St.-Johanns-Park, fotografiert und mit einem Essay versehen von Michel Schultheiss («gesichtet #89»).

Angesichts gewisser heiss laufender «Diskurse» geradezu entspannend, entkrampfend-weltoffen und zum unvoreingenommenen Nachdenken anregend ist Michel Schultheiss‘ Kolumne zur «Guggemoschee».

«Während sich die einen im Keller zum ‚Schränzen’ versammeln, treffen sich die anderen im oberen Stockwerk zum Beten. […] Insofern haben die beiden Nachbarn auch einen gemeinsamen Nenner: Beiden ist geselliges Beisammensein wichtig, wenn vielleicht auch mit unterschiedlicher Getränkeauswahl. Und Kopfbedeckungen kommen in beiden Szenen durchaus vor.»

Es sind Sätze wie diese, die bei «Zeitnah» Freitag für Freitag die Zugriffe hochschnellen lassen. Es gibt stets etwas zum Entdecken, Stoff zum Nachdenken, Staunen, Schauen und Lachen, Bilder, die bleiben: Bilder eines passionierten Stadtwanderers, die dazu anregen, selbst auch mal wieder nur so durch die Strassen und über die Plätze zu schlendern. «gesichtet», das sind die Texte eines stets zeitnahen Beobachters, der es meisterhaft versteht, spielerisch zu vertiefen, was die Bilder zeigen. Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Mehr als tausend Bilder wiederum sagen die mittlerweile hundert Ausgaben von Michels Schultheiss‘ sehens- und lesenswerter Kolumne. Hier pulsiert die Stadt, hier geben sich Vögel die Ehre, hier wird Stadtentwicklung kritisch begleitet und auch die Street-art kommt nicht zu kurz. Wer die superbe Kolumne zum Kommentare-Kommentierungsstreit im St. Johann liest, geht künftig nicht nur mit anderen Augen, sondern auch mit einem breiten Grinsen an all den flüchtig auf Hauswände gesprayten Sprüchen vorbei: «gesichtet» ist nie «nur» Bild oder «nur» Text, sondern immer ein ineinandergreifendes, über sich selbst hinausgreifendes Ganzes. Mit kluger, edler Feder und mit dem Auge für Kleinigkeiten und Zusammenhänge entführt uns Michel Schultheiss jeden Freitag in seine Welt, in sein Basel zumeist, gerne aber auch nach Mexiko. Danke, Michel, für hundert Mal Handschrift und Augenschmaus. Auf dich und die nächsten hundert.


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